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Meral mein

Meral ist ein Mädchen. Meral ist eine Frau. Meral ist so vieles, das ich nicht begreife. Warum schien Meral mir so unnahbar, so fern? Meral trägt einen Namen, der mich betörte, der mich heute noch an bunte Perlenketten erinnert und leuchtend rot lackierte Zehennägel. Sandalenmädchen nannten wir sie, fasziniert. Zigeunerin schimpfte sie mein Vater. Das war Jahre bevor sie verschwand. Jetzt ist Meral eine Sandalenfrau, keinen Zweifel, irgendwo. Ich hörte, sie habe studiert. Ich hörte, sie habe geheiratet. (Meral verheiratet?) Ich höre so vieles, das ich nicht verstehe. Wie alt ist Meral jetzt? Meine Mutter mochte sie. Ich war verrückt nach ihr. Keiner wusste das, nicht einmal ich.

 

Einmal küsste ich Meral. Ich hatte Mut gesammelt, er pumpte dumpf in meinen Adern. Es war der kürzeste und der längste Kuss, der schmerzhafteste. Sie war sechzehn. Ich fühlte nichts, meine Lippen waren Steine. Verletzte ich sie? Meral war nicht überrascht. Die Schule war aus. Jeder im Dorf wusste davon. Die Vögel pfiffen es. Ihr Vater schlug sie, doch das erfuhr ich erst Jahre später. Meral hatte niemals Tränen in den Augen. Sie liebte ihren Vater. Die letzten Tage verschwimmen wie im Traum. Als meine Augen wieder sahen, war sie fort. Habe ich sie vertrieben?

 

Merals Vater arbeitete in der Fabrik. Das brachte ihn her. Meral war damals ein Stern in den Röcken ihrer Mutter. Winde blasen über die Steppe, sagte sie. Ich verstand sie nicht. Ich war acht, sie sechs. Sie malte die schönsten Bilder. Es gab einen kleinen Spielplatz, mitten im Dorf. Einmal vergruben sie ihre Sandalen im Sand. Meral lief barfuss heim. Mutter, sagte ich an diesem Abend, warum fahren wir nicht im Sommer in die Türkei? Gibt genug Türken hier, sagte Vater. Merals Vater kam spät von der Arbeit. Ich fand ihre Sandalen und hängte sie an ihre Tür.

 

Ich küsste Meral. Einmal nur. Und dann viele Jahre lang in meinem Traum. Doch nie gelang es mir, sie zum Weinen zu bringen. Meral sah mich an. Sie sah meine Mutter an. Ich werde dich heiraten, sagte ich. Ich bitte deinen Vater. Jedem im Dorf sage ich es. Sie war vierzehn, die Zigeunerin. Ich liebte sie so. Und wusste es nicht. Heute weiß ich. Ich blickte meine Mutter an, doch die schüttelte den Kopf. Aber ich habe sie doch gefunden, nur gefunden, rief ich. Komm mit, ich zeige dir wo. Sie hatte keinen Bruder.

 

Nachdem sie gegangen war, sprach niemand mehr von ihr. Auch ich nicht. Doch ihre Bilder hob ich auf. Sie sei in die Heimat zurückgekehrt, hieß es. Sie habe versucht, sich das Leben zu nehmen, hieß es. Man hört so vieles. Einmal begegnete ich zufällig ihrem Vater. Ein stummer Mann. Er spuckte vor mir auf den Boden. Ich sah ihn nicht an.

(Thessaloniki, 2005)

Schattengäste

 

Die Großeltern sind zu Besuch. Was tun sie nur hier? Sie passen nirgendwo recht hin und sind doch überall zugleich. Auf der Terrasse, in der Küche, drunten im Vorratskeller, sogar auf dem Dachboden hämmern sie, kochen sie, beten wippend, sprechen lauthals fremde Sprachen. Ständig drücken und herzen sie, küssen uns die Wangen feucht. Die Nachbarn starren.

Dede hat es sich in den Kopf gesetzt, das Dach des Gartenhauses zu erneuern. Es leckt, er kann nicht länger müßig sein. Seine Knochen knacken, in den Fingern juckt es ihn. Die Leiter hat er schon geschultert, wir können ihm gar nicht genug Werkzeuge herbeischaffen. Dann steht er oben in der prallen Sonne, die Augen zugekniffen, Schweißperlen auf Bart und Stirn. Vater lässt sich stundenlang nicht blicken.

Nene hantiert mit Töpfen, Löffeln, Pfannen. Auf der Suche nach passenden Gewürzen riecht sie in jedes Döschen. Pfefferwolken, Thymian, Pfefferminze, Zimt – auf ihre Nase ist Verlass. Hackfleisch formt sich, Teigfladen ziehen Fäden. Nenes Lippen bewegen sich lautlos, sie hat für jeden ein Lächeln. Auch Mutter lächelt, denn sie ist heute ein Gast in ihrer eigenen Küche.

Als wir die Großeltern zum Flughafen fahren, hinterlassen sie bei uns zu Hause einen leeren Raum. Keiner hämmert mehr, keiner ruft mehr, küsst und herzt uns, das Essen schmeckt wieder wie immer. Vier Wochen sind eine lange Zeit – und eine schrecklich kurze.

 

(Thessaloniki, 2005)

Iyi yolculuklar

(in Gedenken an Nene)

 

Der Tag des Abschiedes ist gekommen. Nene wacht bereits mit tränenden Augen auf, obwohl wir erst gegen Abend aufbrechen werden. Es ist einer dieser glühend heißen, staubigen Spätsommertage in Ankara – die Stadt kocht und lässt den Horizont flimmern. Trotz der Hitze schwappt den ganzen Tag über Wasser aus Nene. Jedes ihrer Stoßgebete plätschert wie ein Monsunregen und verdampft auf dem glühenden Asphalt. Selbst ihre Küsse sind heute feuchter als sonst.

 

Drinnen ist es erträglich. Abgedunkelte Räume konservieren die Kühle der Nacht. Doch jeder Schritt vor die Tür brennt sich messerscharf in die Retina. Während Mama die Koffer packt, steht Nene schweigend am Fenster, eine mächtige, diffus beleuchtete Silhouette. Wir folgen ihr nach draußen in das Feuer, beobachten sie, wie sie mit einem Schlauch Wasser auf das zischende Pflaster sprengt und es dann mit einem Strohbesen zur Seite fegt. Der Geruch von dampfendem Stein vermischt sich mit Nenes Tränen und umhüllt uns wie eine Wolke.

 

Im Schatten halb verfallener Gebäude spielen kleine, staubige Kinder und schneiden Katzen die Schwänze ab. Ihr Schreien vermischt sich mit dem Sirren der Hitze. Nur selten verirrt sich ein Auto auf diesen abgelegenen Hügel mitten in der Stadt. Lediglich der Eiswagen manövriert sich täglich mit viel Geschick die engen, kurvenreichen Gassen empor. Dondurma ertönt es dann monoton wie ein Gebet. Nene gibt uns seufzend einige Lira. Sie kann uns heute nichts abschlagen.

 

Am frühen Nachmittag kehrt Papa von letzten Erledigungen aus der Stadt zurück. Der BMW ist frisch gewaschen und wirkt hier oben in der Staubwüste wie ein Fremdkörper. Die Kinder umringen den Wagen, fassen den metallic-grünen Lack mit schmutzigen Fingern an. Sogleich kommt Nene angehumpelt und verscheucht die Bande mit großartigen Gebärden. Dann umarmt sie ihren Sohn. Müsst ihr wirklich schon ...? Allah, Allah! Voll zärtlicher Schwermut küsst sie Papa die Wasserperlen von der Stirn. Sie selbst ist in Schweiß gebadet.

 

Der Mühezin weint. Nene zu Liebe hat Papa sie in die nahe gelegene Moschee begleitet. Wir Kinder stehen am kleinen Laden und schütten uns Limonade in glühende Kehlen, während Mama drinnen im Haus schwarzen Tee aufsetzt.

 

Später sitzen wir im schwer verhangenen Esszimmer zum letzten gemeinsamen Abendessen. Papa spricht kauend von der bevorstehenden Reise. Für Europa seien in den nächsten Tagen starke Regenstürme angesagt, heißt es. Nene sitzt schweigend da. Sie hat keinen Bissen angerührt, sitzt nur da und lässt die Perlen ihrer Gebetskette durch die Finger gleiten. Dann plötzlich unterbricht sie Papa mitten im Satz und erzählt, wie er damals zum ersten Mal aufgebrochen war in die Ferne. Sie hatte ihn in den Bus nach Istanbul gesetzt mit einem einzigen Koffer. Die Erinnerung bedrückt sie, sie atmet schwer. Schweigend essen wir zu Ende.

 

Gegen Abend ziehen einige Regenwolken auf, doch kein Tropfen erreicht den brennenden Boden. Trotzdem wird es bald abkühlen, meint Mama, Nächte in der Wüste sind frisch. Nach Einbruch der Dunkelheit belädt Papa den Wagen, während wir uns den Staub des Tages von den Leibern waschen. Die Wasserleitungen, die gegen Mittag versiegt waren, funktionieren endlich wieder. Als wir fertig sind, steht auch der BMW schwer beladen bereit, auf dem Gepäckträger türmen sich Koffer. Wir Kinder nehmen auf der Rückbank auf drei Schichten Wasser- und Zuckermelonen Platz. Noch empfinden wir ihre Kühle als angenehm. Nene steht mit dem obligatorischen Wassereimer neben dem Wagen. Ihr Gesicht tropft vor Tränen. Unsere Wangen sind von ihren Küssen gezeichnet. Als sich das Auto in Bewegung setzt, schüttet Nene den Inhalt des Eimers auf die Rückscheibe des BMWs. Iyi yolculuklar! Eine türkische Sitte, das bringt Glück auf Reisen und führt die Aufbrechenden sicher zurück. Gefolgt von einer schreienden Kinderschar tauchen wir in eine der dunklen Gassen ein, die uns auf verschlungenen Wegen hinunter in das Herz der Landeshauptstadt führen wird. Wir winken und blicken zurück. Dort steht Nene, mit einer Hand winkend, die andere an ihr Herz gepresst. Der leere Wassereimer liegt neben ihr am Boden. Wir küssen deine Augen, Oma, bis zum nächsten Jahr!

 

(Austin, 2000)

 

 

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